Mein Kirchenraum: Walchwil

     
Jede Pfarrperson assoziiert etwas anderes mit dem Begriff Kirchenraum. Für den einen ist es einfach die Kirche, für die andere gleich der ganze Bezirk. In unserer neuen Serie erzählen die Zuger Pfarrpersonen, wie ihr persönlicher Kirchenraum aussieht. Heute macht das Pfarrerin Irène Schwyn aus Walchwil.


Immer wieder darf ich erleben, wie Menschen ganz angespannt zur Tür hereinkommen. Dann betreten sie den Kirchenraum, und die Spannung fällt von ihnen ab. Am deutlichsten ist dieser Effekt bei jenen, die den Raum zum ersten Mal betreten. Das macht den Raum zur Kirche, zum Ort der Einkehr und der gemeinsamen Ausrichtung auf Gott. Dem Architekten ist es gelungen, diese wichtigen Aspekte des Gottesdiensts in der Raumkonzeption umzusetzen.

Unerwartetes
Dabei bricht das Gebäude bei näherer Betrachtung mit diversen Konventionen. Wer das Foyer betritt, steht direkt vor der Treppe zum Kirchenraum. Dennoch wenden sich viele beim ersten Besuch zur Seite, zum Sitzungszimmer oder zum WC. Offensichtlich rechnen sie nicht damit, dass sich der Kirchenraum im ersten Stock befindet. Im Kirchenraum gibt es weder ein Kreuz noch einen Taufstein, dafür grosse Topfpflanzen. Der Ständer mit der Bibel steht erst seit einigen Jahren da. Die Orgel ist eingebaut in den Glockenturm, der Boden und Dach der Kirche durchbricht und so zusammen mit dem diagonal verlaufenden First dem quadratischen Raum eine Ausrichtung gibt.

Aussen kühl, innen warm
Mich erinnert der Raum an ein Zelt: einen Ort, an dem man geschützt ist und Station macht auf der Lebensreise. Andere haben auch schon von einem Schiff gesprochen, und ich glaube, der Architekt sagte mir einmal, die Form der Rigi habe ihn inspiriert. Von aussen wirkt das Gebäude eher kühl: Beton, Fenster und Metall. Im Innern sorgen terracottafarbene Bodenplatten und viel Holz für eine warme Atmosphäre. Die grossen Fenster sind undurchsichtig. Sie lassen viel Licht hinein, aber man sieht nicht hinaus, soll sich auf das Innere konzentrieren. Nur im Erdgeschoss und von der grossen Terrasse öffnet sich der Blick in die Weite, über den See und in die Berge.

Der Raum hilft
Der Raum hat eine sehr volle Akustik und eignet sich gut für Konzerte im kleineren Rahmen. Ich erinnere mich an wunderbare Kammerkonzerte von Streicherensembles, an Musikschulkonzerte, an kleine und grosse Chöre, an Orgelkonzerte und Sologesang. Als Konzertbesucherin war ich den Musizierenden sehr nahe, ich konnte Mimik, Körpersprache und Fingerfertigkeit beobachten, während ich lauschte. Wie ist es, hier Gottesdienst zu feiern? Es braucht nicht viel, und man ist auch innerlich im Gottesdienst. Der Raum hilft. Dank der wunderbaren Akustik klingt Gemeindegesang. Man hört die anderen Gemeindemitglieder singen und stimmt ein. Der Raum kommt ohne technische Unterstützung beim Sprechen aus. Wer tragend und langsam genug spricht, wird in der Regel verstanden. Das vereinfacht Gottesdienste mit mehreren Mitwirkenden. Gerade mit Kindern muss man nicht in Reih und Glied sitzen, sondern kann es sich im Kreis auf Kissen am Boden oder auf Stühlen bequem machen.

Ur-reformiert
Es ist ein sehr reformierter Gottesdienstraum. Er lebt von der sinnerfüllten Kargheit, der Reduktion auf das Wesentliche. Gewisse Kirchen liessen sich bei Bedarf relativ leicht für die Bedürfnisse anderer Konfessionen umbauen. Diese nicht. Würde dieser Raum als katholische Kirche genutzt, fände sich da zwar viel mehr «Gottesdienstmobiliar », aber es würde vermutlich recht verloren herumstehen. Die Kargheit wäre nicht mehr Freiraum und Ruhe, sondern riefe eher die Assoziation «kahl und leer» hervor. Ähnlich seltsam würde eine lutherische oder – völlig unmöglich – orthodoxe Umnutzung wirken. Und eine charismatisch- pfingstliche? Diese Gemeinde würde vermutlich die Möglichkeit zur Projektion vermissen. Es gibt keinen gescheiten Platz für eine Leinwand oder einen Bildschirm, und bei Sonnenschein kommen auch lichtstarke Geräte an ihre Grenzen. Vielleicht gefällt mir die Kirche deswegen so gut, weil sie so konfessionell geprägt ist. So wichtig mir der Reichtum konfessioneller Vielfalt ist: Ich bin von Kind auf reformiert, und obwohl diese Kirche ganz anders aussieht als die jahrhundertealten Kirchen meiner Kindheit, ist sie ein Stück Heimat.

Text: Irene Schwyn, Pfarrerin Walchwil (Kirche Z 2/2020)

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