Mein Kirchenraum: Ägeri


Jede Pfarrperson assoziiert etwas anderes mit dem Begriff Kirchenraum. Für den einen ist es einfach die Kirche, für die andere gleich der ganze Bezirk. In unserer neuen Serie erzählen die Zuger Pfarrpersonen, wie ihr persönlicher Kirchenraum aussieht. Helen Jäggi Kosic ist stellvertretende Pfarrerin im Teilzeitpensum im Bezirk Ägeri und stellt ihre «gute Stube» vor.

Ich bin gern in der reformierten Kirche in Mittenägeri. Die Kirche ist weder klein noch gross. Sie ist weder alt noch modern. Sie weckt in mir nicht das Gefühl der Ehrfurcht und lässt mich nicht staunend erschaudern. Die Kirche in Mittenägeri empfängt mich wie eine gute Stube. Nimmt mich auf. Die Fenster auf der Seite vorn fangen oft Sonnenstrahlen ein und schaffen wunderbare Atmosphären. Doch am berührendsten in der Kirche in Mittenägeri ist für mich die Gemeinschaft, die ich dort erlebe.

Das Selbstverständliche schätzen
Ich bin vor 18 Jahren nach Bosnien ausgewandert. In den ersten sechs Jahren machte ich jedes Jahr eine Stellvertretung als Pfarrerin. Dann kauften wir unseren Hof, und ich lebte zehn Jahre lang als Bäuerin. Und wer Tiere hat, der ist Zuhause. In dieser Zeit lebte ich nicht nur ohne die Möglichkeit, Pfarrerin zu sein. Ich lebte auch ohne (Glaubens-) Gemeinschaft. Mit meiner Familie teilte ich immer mal wieder tiefe Momente des Glaubens. Ein spontanes Gebet. Ein Unservater. Ein Abendmahl. Manchmal ging ich in die orthodoxe Kirche in meiner Nachbarschaft. Doch das war’s. Als ich vor gut einem Jahr überraschend wieder die Möglichkeit bekam, in einer Kirchgemeinde mitzuwirken, war ich tief berührt. Was alles einfach da ist: der Kirchenraum, die Orgel, das Klavier; der Sigrist, die Organistin, die «Blumenfrau ». Und die feste Zeit, zu der wir uns treffen und gemeinsam vor Gott stehen. Niemand hindert uns daran. Niemand bedroht uns deswegen. Und wir wollen alle kommen, gemeinsam feiern und einen Moment Leben teilen. Dann der geteilte Liederschatz, Texte und Gebete, die uns prägen. Und die Menschen. So viele verschiedene Menschen. So viele begabte, engagierte Menschen, die etwas zu sagen haben und etwas sagen wollen.

Eine bunte Gemeinschaft
Die Kirche in Mittenägeri wurde 1938 für jene Reformierten gebaut, die als Angestellte der «Spinni» ins Ägerital kamen. Alles Gewanderte, Fremde, Andersartige. Auch heute noch zeichnet die Gemeinde eine grosse Vielfalt aus. Immer noch prägen Gewanderte und Andersartige das Gemeindeleben. Aus Deutschland, Holland, Schweden, Bosnien, aus dem Thurgau und aus dem Züribiet führte uns unser Weg nach Ägeri. Wir alle lieben die Landschaft und schätzen den See und die Berge, die unglaubliche Schönheit der Natur. Und wir sind gern anders. So beherbergt die Kirche im Ägerital eine unruhige, kreative Gemeinschaft von Menschen, die etwas wollen: die etwas erreichen, etwas verändern, prägen, schaffen wollen. Ich bin gern Teil dieser Gemeinschaft und freue mich immer, mit welcher Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit wir miteinander beten und Bibeltexte in die Arbeit, in den Alltag mitnehmen.

Zusammen verbunden
Einer ist Euer Meister, Christus. Ihr aber seid alle Brüder. So steht es vorn in der Kirche. Ich setze gern die Schwestern dazu. Diese Geschwisterlichkeit erlebe ich hier. Immer wenn es uns gelingt, unsere Gaben zum Wohl des Ganzen einzubringen, wenn uns klar ist, wer unser aller Meister ist, dann schaffen wir Wunderbares. Solche Momente sind für mich ein Vorgeschmack auf das Reich Gottes. Und wenn es manchmal auch nicht gelingt, dann suchen wir immer von Neuem nach für alle gangbaren We- gen auf dem gemeinsamen Fundament. Das gefällt mir. Das Kirchengebäude selbst stiftet Gemeinschaft. Es gibt keine Kanzel. Der Ambo ist nur wenige Meter von der ersten Bankreihe entfernt. Wir sehen uns, wenn wir gemeinsam feiern, singen, lesen, beten. Hinten in der Kirche ist zudem ein Raum, wo das Dienstagsgebet für die Gemeinde stattfindet und wo ich Abendmahlsgottesdienst feiern darf. Hier, in diesem Raum der Geborgenheit, kann ich meine Gaben mit der Gemeinde teilen. Ohne verloren zu gehen und doch ohne ein Gefühl der Enge feiern wir im kleinen Kreis dieses grosse Ritual.

Kommen Sie!
Aus dem Ägerital verbinden wir uns dank Millionen von glaubenden Menschen durch 2000 Jahre christlicher Geschichte mit Jesus selbst. Erleben neu, wie stärkend Gemeinschaft ist und wie wenig es braucht, um genährt und gesegnet nach Hause zu gehen: Brot, Traubensaft, einen Kreis Menschen, eine gemeinsame Ausrichtung. Wenn Sie das nächste Mal ins Ägerital kommen – zum Schwimmen, Wandern, Essen oder Geniessen –, kehren Sie doch ein in unsere gute Stube. Schreiben Sie eine Fürbitte in unser Gebetsbuch. Wir werden sie mittragen. Nehmen Sie sich einen Moment der Stille. Was wohl Ihnen dieser Raum schenken wird?

Text: Helen Jäggi Kosic, stv. Pfarrerin Ägeri (Kirche Z 5/2020)

 

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