Mein Kirchenraum: Im Bezirk Ägeri geht es an die frische Luft!


Jede Pfarrperson assoziiert etwas anderes mit dem Begriff Kirchenraum. Für den einen ist es einfach die Kirche, für die andere gleich der ganze Bezirk. In unserer Jahresserie erzählen die Zuger Pfarrpersonen, was ihnen ihr persönlicher Kirchenraum bedeutet. In dieser Folge geht es im Bezirk Ägeri an die frische Luft!

Ich bin quasi in der Kirche aufgewachsen. Mein Vater hat für die reformierte Heimstätte Boldern in Männedorf hoch über dem Zürichsee gearbeitet. Zweimal in der Woche wurde ich zum Gottesdienst zuerst getragen und später geführt. Daran, wie oft ich in der Kirche in der Kinderhüte den Gottesdienst verbracht habe, kann ich mich nicht mehr erinnern. Meine frühkindliche Prägung zum Ort Kirche war sicherlich nachhaltig. Als junge Erwachsene haben wir uns die Kirche als Raum verfügbar gemacht: während den Jahren der «Jesus-people»- Bewegung. Ich war Teil eines Teams, das regelmässig Gottesdienste in der Kirche organisierte. Die Kirche war jedes Mal übervoll, wir sassen selbst auf der Kanzel. Raum wurde zum Event, zum spirituell emotionalen Ort. Noch heute, wenn ich «meine damalige Kirche» in Männedorf betrete, stellt sich dieses Gefühl des Beheimatetseins ein. Ich gebe auch gern zu, dass die Bezeichnung «meine Kirche» emotional geladen und belastet ist und bleibt. Es ist wohl wie mit dem Kinderzimmer. Ich erinnere mich an Details und an die damit verbundenen Geräusche und Gerüche. In den USA habe ich dann einen ganz anderen Zugang zur Kirche als Raum erlebt und gefunden. Keine historischen Bauten, keine bis ins Mittelalter reichende Baugeschichte, die Ansprüche an die gesellschaftliche religiöse Aufmerksamkeit stellen. Vielmehr Event-Locations, die spirituell gedeutet werden. Das Sakrale ging diesen Räumen im Vergleich zur Schweiz völlig ab. Aber – und das machte wohl für mich den grossen Unterschied – das gemeinschaftliche Erleben, die auf Erfahrung und Erlebnis ausgerichtete Liturgie stifteten Kirche als Raum.

Nutzung als Auftrag
Zurück in der Schweiz fand ich mich schon bald wieder in der Kirche, als Verantwortlicher von Jugendgottesdiensten, Stellvertreter und Gestalter von Kasualhandlungen. In mir wuchs die Irritation zwischen physischem Kirchenraum und inhaltlichem Geschehen. Zunehmend schwand mein Verständnis dafür, dass der Raum zum Anspruchsort verkommen ist. «Nur in der physischen Kirche» darf getauft, geheiratet und beerdigt werden. Mein reformiertes Verständnis, geprägt durch die oben erzählte frühkindliche Prägung und die USA-Erfahrung, wurde zunehmend «bauentfremdet». An meiner ersten Pfarrstelle dann eine ganz andere Herausforderung: Im bündnerischen Rheinwald, in den fünf Kirchen zwischen Sufers und Hinterrhein, war es Brauch und artikulierte Erwartung, dass ich von der Kanzel zu predigen hatte. Die Verbindung von Geografie, sprich Ort mit jeweils eigener Kirche und gelebter Ortsgemeinde, war und ist intensiv. Die physische Kirche als identitätsstiftender Bau war mit Händen zu fassen. Dennoch: Wohler wurde es mir nicht dabei.

Befreiung vom «Raum» zum Raum
Klar ist, dass die Kirche in Mittenägeri mit der Identität von uns Reformierten im Tal zu tun hat. Klar und zentral wichtig ist es darum, diese «unsere» Kirche sichtbar zu haben. Für mich wurde eine Erfahrung im Lauf der Jahrzehnte im hiesigen Pfarramt immer wichtiger: die Erfahrung der Befreiung vom Raum als physischem Ort hin zum Raum als existenzielles Ereignis. Vor über 25 Jahren fing ich mit dem Mountainbike-Gottesdienst bei der Bruhst-Höchi in Oberägeri an. Von Beginn weg habe ich im Pfarramt im Freien getauft, verheiratet und beerdigt. Über Jahrzehnte tauften wir im Rahmen des Konfirmationsprojekts junge Menschen am Waldrand und schufen damit spirituelle Dichte, die für mich kein physischer Raum zu stiften im Stande ist. Ich habe gemeinsam mit Familien Taufen am See, auf dem Berg, auf dem Schiff und in der Höll-Grotte vorbereitet und durchgeführt. Ich habe Urnen an verschiedensten Stellen dem Wasser und der Erde übergeben. Damit wurden spirituelle Räume ausserhalb der Kirchenmauern möglich. Heute bin ich überzeugt: Kirche muss Räume bei den Menschen stiften und nicht Menschen zwingen, Kirchenräume zu nutzen, so sie denn an «Kirche» teilnehmen wollen. Unsere kirchlichen Räume laufen meiner Meinung nach Gefahr, zu bauhistorischen Reliquien zu verkommen. Leer und nur noch in existenziellen Grenzfällen von Bedeutung. Mir ist wichtig geworden, dass Kirche auch Räume für spirituelle Erfahrung ermöglicht, ausserhalb ihrer Immobilien. Kirchenraum wird damit zum Raum der Kirche.

Pfarrer Jürg Rother, Ägeri (Kirche Z 11/2020)

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