7. Juni 2022

Bedingungslose Zuwendung

Die ökumenische Gefängnisseelsorge im Kanton Zug bietet Gefangenen spirituelle Begleitung in Form von Gesprächen an. Marianne Wiedmer und Stefan Gasser-Kehl geben im Interview Einblicke in ihre Arbeit. Marianne Wiedmer ist reformierte Seelsorgerin im Bostadel, Menzingen. Stefan Gasser-Kehl ist katholischer Seelsorger im Bostadel und in der Kantonalen Strafanstalt in Zug, wo er für beide Konfessionen tätig ist.

Marianne, seit wann arbeitest du in der Gefängnisseelsorge?

Ich bin seit anfangs 2018 in der Gefängnisseelsorge tätig, im Bostadel seit September 2021.

Was hat dich dazu bewogen, diese Aufgabe zu übernehmen?

Im Kanton Bern arbeitete ich 6 Jahre lang im Justizvollzug. Zum Erarbeiten des persönlichen Vollzugsplanes von Gefangenen gehörten auch Gespräche zur Tatwiedergutmachung. Besonders darin zeigte sich mir die Einsamkeit der Insassen und das Hadern mit ihren Biografien. Darauf einzugehen, hatte jedoch keinen Platz im Justizauftrag. Die Grenzen des Justizvollzugs machten mir zu schaffen. So entschied mich für eine Neuorientierung, denn die Seelsorge hat das Privileg, sich um die Seele zu kümmern.

Stefan, du hast in der Gefängnisseelsorge bis anhin mit männlichen Kollegen zusammengearbeitet. Wie empfindest du es, nun mit einer Frau zusammenzuarbeiten?

In den Bereichen, in denen Marianne und ich zusammenarbeiten, hat die emotionale Komponente an Gewicht dazugewonnen. Das schätze ich sehr. Wir achten vermehrt auf Atmosphäre bei Gottesdiensten, dass der Raum ansprechend eingerichtet ist oder dass wir die Teilnehmenden zu Beginn persönlich begrüssen. Die Insassen dürfen den Gottesdienst auch mitgestalten, indem sie in ihrer Sprache aus der Bibel vorlesen.
Wir können uns ausserdem auf die gegenseitige Loyalität verlassen, wenn wir bei der Direktion wichtige Interessen der Seelsorge gemeinsam vertreten. Das festigt die sehr guten Beziehungen, die seit Jahren zum Management bestehen.

Marianne, worüber wollen die Gefangenen konkret reden, wenn sie ein Gespräch wünschen?

Die Anliegen sind ausgesprochen vielfältig, manchmal sind es die alltäglichen Mühen im Vollzug, die zwischenmenschlichen Reibereien auf der Etage oder am Arbeitsplatz, ein Urinprobenresultat und die dazugehörige Sanktion, ein missglücktes Telefonat mit der Freundin, ein abgelehnter Ausgang oder ein negativer Therapiebericht. Oft sind auch Schuld und Sühne ein Thema. Gefangene vertrauen darauf, in der Seelsorge Erleichterung zu finden. Sie suchen Trost, Zerstreuung, Erklärungen, Vergebung oder den Dialog für ihre eigene Reflexion.

Werden auch sehr persönliche Probleme angesprochen?

Ja, unbedingt! Die meisten Gespräche haben einen sehr persönlichen Rahmen. Kürzlich sagte mir ein junger Mann, er habe eigentlich nicht über sein innerstes Versagen sprechen wollen, doch nun sei es ihm doch «passiert». Ich empfand das als heiligen Moment. Wenn die Gefangenen eine Vertrauensbasis erfahren und über ihre zum Teil schwersten Verbrechen zu reflektieren beginnen, kann der immense innere Druck etwas gelöst werden. Oft machen die Männer diese Erfahrung zum ersten Mal in ihrem Leben.

Stefan, welches Ziel verfolgt die Gefängnisseelsorge?

Wir leisten – wie alle anderen, die im Bostadel arbeiten – einen Mehrwert für die Organisation. In unserem Fall besteht dieser darin, die Welt der Spiritualität zu vertreten. Wenn die Insassen sich in Gesprächen uns gegenüber öffnen, hat dies Ventilfunktion, sie bauen Frustrationen ab, entwickeln neue Perspektiven. Weil alle Gespräche absolut vertraulich sind, schaffen wir für die Gefangenen einen Raum der Freiheit. Und weil wir thematisch keinerlei Vorgaben machen, erleben sie unsere bedingungslose Zuwendung.

Marianne, kannst du jederzeit auf der sachlichen Ebene wirken, oder spielt mitunter beim männlichen Gegenüber der Faktor Frau eine Rolle?

Man kann professionell und herzlich zugleich sein. Im Gespräch versuche ich herauszuspüren, was für eine Art Mensch mir gegenübersitzt.  Manche können – auch kulturbedingt – mit Fürsorge schlecht umgehen, wollen sie ausnützen, werden fordernd, nehmen eine Opferhaltung ein oder lehnen sie ab. Die meisten sind dankbar oder bitten um Beistand.
Fantasien und Träume machen vor den Gefängnismauern nicht Halt. Ich habe gelernt, mir meiner verbalen Ausdrucksweise und Gestik bewusst zu sein. Den Gefangenen begegne ich von Beginn an mit Respekt und führe Gespräche auf Augenhöhe. Diese Haltung spiegelt sich im Gegenüber und schafft eine gegenseitig respektvolle Basis.

Stefan, wohin entwickelt sich die Gefängnisseelsorge methodisch?

In den vergangenen Jahren hat sich der Ansatz der sogenannte «restaurativen Justiz» durchgesetzt. Er ist versöhnungs- und beziehungsorientiert. Es geht um «Wiederherstellung» oder «Wiedergutmachung» von menschlichen, seelischen Schäden, aber auch von materiellen. Das Ziel dahinter ist die Resozialisierung, die Integration in die Gesellschaft. Voraussetzung dafür ist aber auch eine innere Entwicklung. Die Gefangenen machen sich beispielsweise Gedanken darüber, wie sie um Entschuldigung bitten könnten, besprechen mit uns Briefe, Ängste vor ersten Begegnungen oder Möglichkeiten einer finanziellen Wiedergutmachung.

Interview: Bernadette Thalmann

Zeichnung: Gefängniszelle, gezeichnet von K. L, der wöchentlich in die Seelsorge kommt.
 



Tags: Oekumene
nach oben